Veranstaltung: | 39. Landesparteitag Grüner LV Sachsen-Anhalt |
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Tagesordnungspunkt: | 5. Anträge zum Landesparteitag |
Antragsteller*in: | Landesfachgruppe Soziales; Paul Weidner, Julia Bohlander, Ralf Bohlander, Matthias Borowiak (KV Magdeburg); Annegret Schikowsky (KV Saalekreis), Mirko Wolff (KV Altmarkkreis Salzwedel), Sam Pairavi (SV Halle) (dort beschlossen am: 19.07.2017) |
Status: | Geprüft |
Eingereicht: | 28.07.2017, 09:04 |
A-2: Bedingungsloses Grundeinkommen
Antragstext
Idee des Antrags
Ob als Antwort auf die kommende digitalisierte Welt, die voraussichtlich
deutlich weniger Lohnarbeit bietet oder als Gesellschaftsentwicklung, das
bedingungslose Grundeinkommen ist in aller Munde. Wir GRÜNE in Sachsen-Anhalt
wollen auf diese Entwicklung nicht nur reagieren, sondern sie mit Mut gestalten.
Grundsätzlich zielen wir dabei gesellschaftspolitisch auf den Wandel von der
Erwerbsarbeitsgesellschaft hin zur Bürgergesellschaft. Das Nadelöhr der
Erwerbsarbeit und mithin des Arbeitsmarktes für eine vollwertige soziale
Teilhabe, wollen wir überwinden. Der Mensch ist nicht zuvorderst Erwerbstätiger
und dadurch sozial integriert. Vielmehr sehen wir den Menschen als Bürgerin und
Bürger samt seinen Grundrechten. Diesen Bürgerstatus samt Grundrechten wollen
wir um ein Grundeinkommen erweitern. Mit diesem Antrag wollen wir Eckpunkte
eines solch verstandenen Grünen Grundeinkommens definieren und erste Schritte
beschließen, um den Weg dahin zu gehen.
Idee des bedingungslosen Grundeinkommens
Mit fortschreitender Digitalisierung, Automatisierung und Spezialisierung geht
der Umfang existenzsichernder Erwerbsarbeit zurück. Arbeit ist zwar weiterhin
vorhanden, diese kann aber nicht mehr von jedem ausgeführt werden und ist oft
nicht mehr existenzsichernd. Das aktuelle Sozialsystem bestraft Menschen für
Arbeitslosigkeit, indem Grundrechte eingeschränkt werden und der betroffene
Bürger teilweise entmündigt wird. Es setzt den Bürger unter Druck, jeder
Erwerbsarbeit nachgehen zu müssen, ob diese existenzsichernd, ökologisch
nachhaltig oder sinnstiftend ist oder nicht. Ein Wandel in der Sozialpolitik ist
angesichts dessen dringend erforderlich. Das bedingungslose Grundeinkommen hat
hier das Potential, die Menschen von diesem Leidensdruck zu befreien und ihnen
die Freiheit zu geben, sich abseits des engen Fokus auf Erwerbsarbeit in unsere
Gesellschaft einzubringen sowie kreative Potentiale und Eigenständigkeit
anzuregen. Wir verstehen ein BGE daher als ein echtes soziales Grundrecht im
Gegensatz zu den konditionalen Anspruchsberechtigungen heutiger Sozialsysteme.
Wir fordern ein Grundeinkommen, das Existenz und soziale Teilehabe eines jeden
Bürgers und einer jeden Bürgerin in unserem Land von Geburt an ohne
Einschränkung und ohne Gegenleistung sichert. Somit entfallen
Bedürftigkeitsprüfungen und die Anrechnung des Grundeinkommens auf weiteres
Einkommen der Person. Das Grundeinkommen darf dabei selbstverständlich
zusätzliche notwendige Sozialstaatsmaßnahmen, wie Leistungen für Menschen mit
Behinderungen, eine gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, aber auch eine
lebensstandardsichernde Arbeitslosenversicherung, nicht ersetzen. Zugezogene
können nach den gleichen Bedingungen, die bereits heute für die Aufnahme in
unser bisheriges Sozialsystem gelten, einen Anspruch geltend machen.
Das Grundeinkommen muss den Grundbedarf decken und soziale Teilhabe sichern. Es
wird zyklisch angepasst, um das einzuhalten.
Gesamtwirtschaft
Nicht nur einzelne Unternehmen, sondern auch die Wirtschaft als Ganzes
profitieren von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Denn ein solches bietet in
erster Linie mehr Stabilität, sowohl für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als
auch für die Arbeitgeber.
Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist ein solches Grundeinkommen
gleichbedeutend mit einer Sicherung gegen Arbeitsplatzabbau, der infolge der
Digitalisierung zwangsläufig eintreten wird bzw. bereits eingetreten ist. Der
Megatrend Digitalisierung hat längst begonnen und wir GRÜNE haben die Pflicht
und den Willen, diesen Wandel mitzugestalten. Neben dem Arbeitsplatzabbau sind
aber auch immer mehr Menschen zur Arbeit in prekären Verhältnissen und im
Niedriglohnsektor gezwungen. Auch hier kann ein Grundeinkommen Abhilfe schaffen:
Indem die einzelne Arbeitnehmerin zeitweise auch ohne festen Job auskommt, kann
sie sich mehr Zeit nehmen, eine Arbeit zu suchen, die wirklich zu ihr passt.
Anders gesagt, schafft das bedingungslose Grundeinkommen eine Exit-Option
gegenüber ausbeuterischen Verhältnissen und stärkt die Verhandlungsposition von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Menschen, die ihre Arbeit gerne machen, sind
außerdem auch ganz nebenbei produktiver. Letztlich sichert ein Grundeinkommen
auch Teilzeitarbeit ab, sodass diese für Familien attraktiver und einfacher zu
bewerkstelligen wird.
Der stabilisierende Effekt eines Grundeinkommens auf Kaufkraft und
Konjunkturschwankungen kommt letzten Endes auch den Arbeitgebern zugute.
Wirtschaftliche Stabilität ist schließlich die Voraussetzung für sichere
Arbeitsplätze und zukunftsgerichtetes Wirtschaften.
Zukunftsgerichtetes Wirtschaften wiederum lebt von Innovation, Kreativität und
unternehmerischen Impulsen. Innovation birgt aber auch immer ein Risiko des
Scheiterns, was die Gründung von Start-Ups verhindern kann. Auch hier greift
wieder das Grundeinkommen und bietet eine Absicherung sollte ein Projekt
schiefgehen.
Es stimmt, dass das bedingungslose Grundeinkommen nur funktionieren kann, wenn
genügend Menschen auch weiterhin ihrer Erwerbsarbeit nachgehen. Doch hier sehen
wir keinen Grund zur Sorge. Der Anreiz zur Erwerbsarbeit besteht nach wie vor,
da das Grundeinkommen eben nicht mehr ist als eine Grundsicherung. Es wird
vielmehr eine Veränderung dahingeben, dass sich Einzelne bewusster und
gelassener für oder gegen einen bestimmten Arbeitsplatz entscheiden können. An
der Bedeutung von Erwerbsarbeit wird sich wenig ändern.
Sozialstaat
Der deutsche Sozialstaatsapparat ist vor allem ein Bürokratieapparat. Eine
Vielzahl von Sozialstaatsinstrumenten sorgt nicht nur für Unübersichtlichkeit,
sondern bedeutet auch hohe Kosten, um den Bürokratieapparat am Laufen zu halten.
Eine Zusammenlegung vieler Instrumente im bedingungslosen Grundeinkommen ist
gleichbedeutend mit einer größeren Effizienz des Sozialstaates als auch enormen
Einspareffekten. Durch die höhere Transparenz und die pauschale, bedingungslose
Ausschüttung des Grundeinkommens erreicht der Sozialstaat bedeutend mehr
Bedürftige. Aktuell hätten ca. 1,5 Millionen Menschen Anspruch auf
Sozialleistungen, nehmen diese aber aus verschiedenen Gründen (z. B.
Schamgefühlen) nicht wahr. Da das Grundeinkommen nicht mehr beantragt werden
müsste, könnte auch dieses Problem gelöst werden. Und fast ganz Nebenbei sichert
das Grundeinkommen eine ausreichende Rente im Alter.
Soziale Sicherheit besteht aber nicht nur aus einer pauschalen Antwort für alle.
Selbstverständlich ersetzt das bedingungslose Grundeinkommen keine
sozialstaatlichen Maßnahmen, die für Menschen mit besonderen Einschränkungen und
Bedürfnissen unerlässlich sind. Ein Abbau von sozialstaatlichen Maßnahmen unter
dem Deckmantel des Grundeinkommens ist hier ausdrücklich nicht gemeint. Denn das
Grundeinkommen zielt sowohl auf Verteilungsgerechtigkeit als auch auf soziale
Sicherheit.
Soziale Aspekte (individuell) / Effekte auf Demokratie und Gesellschaft
Im bisherigen System der Grundsicherung, werden Menschen für Arbeitslosigkeit
bestraft. Ob sie für die Arbeitslosigkeit verantwortlich sind oder nicht, ist
dabei unerheblich. Jeder Mensch, der Leistungen aus der Grundsicherung bezieht,
muss seine Vermögensverhältnisse offenlegen, ist in der Wahl des Wohnortes
eingeschränkt und muss jede Arbeit annehmen, ob diese existenzsichernd ist oder
nicht. Weiterhin müssen Aus-, Fort- und Weiterbildungen durch die Arbeitsagentur
genehmigt/finanziert werden, bei der Aufnahme eines Studiums fallen Betroffene
sogar aus dem Bezug heraus. Dies setzt Arbeitssuchende nicht nur unter Druck, es
schränkt auch ihre Grundrechte ein und verbindet eine berufliche
Weiterentwicklung mit erheblichem bürokratischem Aufwand. Weiterhin haben
bisherige Feldstudien gezeigt, dass sich das Grundeinkommen positiv auf
Bildungsgrad und Gesundheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgewirkt hat.
Abseits der existenzsichernden Arbeit ist zu erwarten, dass das BGE einen
positiven Effekt auf ehrenamtliches Engagement haben. Bereits heute engagieren
sich über 14 Millionen Menschen ehrenamtlich. Es ist zu erwarten, dass ein
Grundeinkommen dieses Engagement stärkt und so ein Mehrwert für unsere
Gesellschaft geschaffen wird.
Ein verstärktes ehrenamtliches Engagement breiter Bevölkerungsschichten stärkt
schließlich auch die Demokratie in unserem Land. Demokratie lebt immer vom
Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Das Grundeinkommen wird mehr Bürger in
die Lage versetzen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Dieses
Engagement muss nicht zwangsläufig in Parteimitgliedschaften münden, auch
Bürgerinitiativen und Interessensverbände würden gestärkt werden.
Fazit: Das BGE befreit nicht nur das Individuum von Existenzängsten und
staatlicher Kontrolle, auch die Gesellschaft profitiert, indem die Bürgerinnen
und Bürger kreative Potentiale entfalten und sich ehrenamtlich stärker in die
Gesellschaft einbringen können.
Bisherige Versuche zum Grundeinkommen
Das bedingungslose Grundeinkommen ist keinesfalls eine Erfindung des 21.
Jahrhunderts, die erst im Zuge der zunehmenden Digitalisierung entstanden ist.
Schon im 15. Jahrhundert beschäftigte sich der englische Humanist Thomas Morus
mit der Idee der Einkommensgarantie. Erste Modellversuche gab es bereits in den
1970er Jahren in Kanada. 1974 beschloss die damalige linksliberale kanadische
Regierung das Mincome-Experiment, welches die Auswirkungen der Einführung eines
garantierten jährlichen Grundeinkommens untersuchen sollte. 1.000 Familien
erhielten in den Städten Winnipeg und Dauphin ein jährlich garantiertes
Einkommen von 1.200 kanadischen Dollar (nach heutigem Stand etwa 5.500 CAD),
ohne sich einer Bedürftigkeitsprüfung unterziehen zu müssen. Eine
wissenschaftliche Auswertung des Experiments erfolgte allerdings nicht, nachdem
es 1977 zu einem abrupten Ende kam. Es zeigte sich jedoch, dass das
Grundeinkommen positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer hatte, es Teenagern ermöglichte, sich für besser für besser bezahlte
Berufe zu qualifizieren oder es Männern wie Frauen mehr Zeit für die Jobsuche
verschaffte.
Ein ähnliches Experiment fand in den Jahren 2008 und 2009 in den namibischen
Dorf Otjivero statt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten für die Dauer
des Versuchs ein monatlich garantiertes Einkommen von 100 namibischen Dollar (6
Euro). Auch hier konnten nach Beendigung des Experiments Verbesserungen in der
Gesundheit und Bildung der Teilnehmenden sowie ein Aufblühen des
Kleinunternehmertums verzeichnet werden.
Aktuell ziehen die Modellprojekte in Finnland und den Niederlanden die mediale
Aufmerksamkeit auf sich. Auch in der kanadischen Provinz Ontario soll noch in
diesem Jahr ein Versuch zum bedingungslosen Grundeinkommen gestartet werden.
Aufgrund dessen, dass diese Versuche gerade erst begonnen haben bzw. noch
beginnen werden, liegen hier noch keine Ergebnisse vor. Im Hinblick auf die
Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen in Deutschland werden diese
Ergebnisse jedoch von entscheidenderer Bedeutung sein.
Finanzierung
Das Grundeinkommen soll zum einen Teil durch die Zusammenlegung von
Transferleistungen zustande kommen und zum anderen durch ein faires
Steuermodell. Durch eine grüne Steuer auf jeden ausgegebenen Euro, die Güter des
täglichen Lebens kaum belastet aber Umweltsünden teuer zu Buche schlägt, lässt
sich das BGE finanzieren und eine nachhaltige, faire Lebensweise belohnen.
Gekoppelt wird dieser Transfer mit bereits von uns Grünen beschlossenen Steuern,
wie der Vermögenssteuer, Finanztransaktionssteuer, Besteuerung eines zu hohen
Umweltkonsums (z.B. CO2-Verbrauch). Ein erheblicher Teil wird auch durch den
Bürokratieabbau gedeckt.
Schritte zur Realisierung und Forderungen
Uns ist bewusst, dass der grundsätzliche Systemwechsel durch ein bedingungsloses
Grundeinkommen nicht von heute auf morgen zu realisieren ist. Als Schritte hin
zu einem BGE fordern wir daher die Ausweitung des Kindergeldes hin zu einer
existenzsichernden Kindergrundsicherung. Weiterhin stehen die Abschaffung der
Sanktionen im SGB II und unser Garantierentenmodell Pate für die Idee einer
grundsätzlichen unverbrüchlichen Existenzsicherung, die im zweiten Fall auch
ohne Bedürftigkeitsprüfung erfolgen soll. Die allgemeine Idee eines BGE soll
somit in den bestehenden umgrenzten Leistungssystemen prägend werden. Damit
könnte sich der der Geist des BGE in den Ressortzuschnitten der einzelnen
Fachministerien manifestieren.
Gleichzeitig ist auf Bundesebene durch die Einrichtung einer Enquete-Kommission
die Überführung des bestehenden Systems in ein BGE-System systematisch
aufzuarbeiten und mögliche Entwicklungspfade aufzuzeigen. Auf Ebene der Länder
sind Debatten in den Fachministerkonferenzen anzuregen. Etwa im Rahmen der
Kultusministerkonferenz, der Kinder- und Jungendministerkonferenz, der Arbeits-
und Sozialministerkonferenz, der Gesundheitsministerkonferenz und der
Wirtschaftsministerkonferenz ist das Thema BGE unter den jeweiligen spezifischen
fachpolitischen und rechtlichen Bedingungen zu diskutieren. So kann das BGE in
seinen vielfachen Potentialen entwickelt und Schnittstellenprobleme zum heutigen
Sozialsystem identifiziert werden.
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