Veranstaltung: | 39. Landesparteitag Grüner LV Sachsen-Anhalt |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 5. Anträge zum Landesparteitag |
Antragsteller*in: | Landesfachgruppe Soziales: Paul Weidner, Julia und Ralf Bohlander, Matthias Borowiak (KV Magdeburg); Annegret Schikowsky (KV Saalekreis), Mirko Wolff (KV Altmarkkreis Salzwedel), Sam Pairavi (SV Halle) (dort beschlossen am: 17.08.2017) |
Status: | Geprüft |
Eingereicht: | 17.08.2017, 20:27 |
A-2-Neu: Antrag: Bedingungsloses Grundeinkommen
Antragstext
Der Landesparteitag möge folgendes beschließen:
„Die Partei Bündnis 90/Die Grünen Sachsen-Anhalt setzt sich für eine Reform des
Sozialstaates ein. Hierzu möchten wir die Idee eines bedingungslosen
Grundeinkommens, das soziale Teilhabe ermöglicht, in einem breiten
gesellschaftlichen Spektrum bekannt machen und eine öffentliche Diskussion
anregen. Ebenso fordern wir die weitere Erforschung von Konzepten zum
bedingungslosen Grundeinkommen auf wissenschaftlicher Ebene und in
Modellversuchen. Hier sollen insbesondere die mögliche Ausgestaltung und die
Umsetzbarkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens erforscht werden.“
Begründung
Idee des Antrags
Ob als Antwort auf die kommende digitalisierte Welt, die voraussichtlich deutlich weniger Lohnarbeit bietet oder als Gesellschaftsentwicklung, das bedingungslose Grundeinkommen ist in aller Munde. Wir GRÜNE in Sachsen-Anhalt wollen auf diese Entwicklung nicht nur reagieren, sondern sie mit Mut gestalten. Grundsätzlich zielen wir dabei gesellschaftspolitisch auf den Wandel von der Erwerbsarbeitsgesellschaft hin zur Bürgergesellschaft. Das Nadelöhr der Erwerbsarbeit und mithin des Arbeitsmarktes für eine vollwertige soziale Teilhabe, wollen wir überwinden. Der Mensch ist nicht zuvorderst Erwerbstätiger und dadurch sozial integriert. Vielmehr sehen wir den Menschen als Bürgerin und Bürger samt seinen Grundrechten. Diesen Bürgerstatus samt Grundrechten wollen wir um ein Grundeinkommen erweitern. Mit diesem Antrag wollen wir Eckpunkte eines solch verstandenen Grünen Grundeinkommens definieren und erste Schritte beschließen, um den Weg dahin zu gehen.
Idee des bedingungslosen Grundeinkommens
Mit fortschreitender Digitalisierung, Automatisierung und Spezialisierung geht der Umfang existenzsichernder Erwerbsarbeit zurück. Arbeit ist zwar weiterhin vorhanden, diese kann aber nicht mehr von jedem ausgeführt werden und ist oft nicht mehr existenzsichernd. Das aktuelle Sozialsystem bestraft Menschen für Arbeitslosigkeit, indem Grundrechte eingeschränkt werden und der betroffene Bürger teilweise entmündigt wird. Es setzt den Bürger unter Druck, jeder Erwerbsarbeit nachgehen zu müssen, ob diese existenzsichernd, ökologisch nachhaltig oder sinnstiftend ist oder nicht. Ein Wandel in der Sozialpolitik ist angesichts dessen dringend erforderlich. Das bedingungslose Grundeinkommen hat hier das Potential, die Menschen von diesem Leidensdruck zu befreien und ihnen die Freiheit zu geben, sich abseits des engen Fokus auf Erwerbsarbeit in unsere Gesellschaft einzubringen sowie kreative Potentiale und Eigenständigkeit anzuregen. Wir verstehen ein BGE daher als ein echtes soziales Grundrecht im Gegensatz zu den konditionalen Anspruchsberechtigungen heutiger Sozialsysteme.
Wir fordern ein Grundeinkommen, das Existenz und soziale Teilehabe eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin in unserem Land von Geburt an ohne Einschränkung und ohne Gegenleistung sichert. Somit entfallen Bedürftigkeitsprüfungen und die Anrechnung des Grundeinkommens auf weiteres Einkommen der Person. Das Grundeinkommen darf dabei selbstverständlich zusätzliche notwendige Sozialstaatsmaßnahmen, wie Leistungen für Menschen mit Behinderungen, eine gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, aber auch eine lebensstandardsichernde Arbeitslosenversicherung, nicht ersetzen. Zugezogene können nach den gleichen Bedingungen, die bereits heute für die Aufnahme in unser bisheriges Sozialsystem gelten, einen Anspruch geltend machen.
Das Grundeinkommen muss den Grundbedarf decken und soziale Teilhabe sichern. Es wird zyklisch angepasst, um das einzuhalten.
Gesamtwirtschaft
Nicht nur einzelne Unternehmen, sondern auch die Wirtschaft als Ganzes profitieren von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Denn ein solches bietet in erster Linie mehr Stabilität, sowohl für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber.
Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist ein solches Grundeinkommen gleichbedeutend mit einer Sicherung gegen Arbeitsplatzabbau, der infolge der Digitalisierung zwangsläufig eintreten wird bzw. bereits eingetreten ist. Der Megatrend Digitalisierung hat längst begonnen und wir GRÜNE haben die Pflicht und den Willen, diesen Wandel mitzugestalten. Neben dem Arbeitsplatzabbau sind aber auch immer mehr Menschen zur Arbeit in prekären Verhältnissen und im Niedriglohnsektor gezwungen. Auch hier kann ein Grundeinkommen Abhilfe schaffen: Indem die einzelne Arbeitnehmerin zeitweise auch ohne festen Job auskommt, kann sie sich mehr Zeit nehmen, eine Arbeit zu suchen, die wirklich zu ihr passt. Anders gesagt, schafft das bedingungslose Grundeinkommen eine Exit-Option gegenüber ausbeuterischen Verhältnissen und stärkt die Verhandlungsposition von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Menschen, die ihre Arbeit gerne machen, sind außerdem auch ganz nebenbei produktiver. Letztlich sichert ein Grundeinkommen auch Teilzeitarbeit ab, sodass diese für Familien attraktiver und einfacher zu bewerkstelligen wird.
Der stabilisierende Effekt eines Grundeinkommens auf Kaufkraft und Konjunkturschwankungen kommt letzten Endes auch den Arbeitgebern zugute. Wirtschaftliche Stabilität ist schließlich die Voraussetzung für sichere Arbeitsplätze und zukunftsgerichtetes Wirtschaften.
Zukunftsgerichtetes Wirtschaften wiederum lebt von Innovation, Kreativität und unternehmerischen Impulsen. Innovation birgt aber auch immer ein Risiko des Scheiterns, was die Gründung von Start-Ups verhindern kann. Auch hier greift wieder das Grundeinkommen und bietet eine Absicherung sollte ein Projekt schiefgehen.
Es stimmt, dass das bedingungslose Grundeinkommen nur funktionieren kann, wenn genügend Menschen auch weiterhin ihrer Erwerbsarbeit nachgehen. Doch hier sehen wir keinen Grund zur Sorge. Der Anreiz zur Erwerbsarbeit besteht nach wie vor, da das Grundeinkommen eben nicht mehr ist als eine Grundsicherung. Es wird vielmehr eine Veränderung dahingeben, dass sich Einzelne bewusster und gelassener für oder gegen einen bestimmten Arbeitsplatz entscheiden können. An der Bedeutung von Erwerbsarbeit wird sich wenig ändern.
Sozialstaat
Der deutsche Sozialstaatsapparat ist vor allem ein Bürokratieapparat. Eine Vielzahl von Sozialstaatsinstrumenten sorgt nicht nur für Unübersichtlichkeit, sondern bedeutet auch hohe Kosten, um den Bürokratieapparat am Laufen zu halten. Eine Zusammenlegung vieler Instrumente im bedingungslosen Grundeinkommen ist gleichbedeutend mit einer größeren Effizienz des Sozialstaates als auch enormen Einspareffekten. Durch die höhere Transparenz und die pauschale, bedingungslose Ausschüttung des Grundeinkommens erreicht der Sozialstaat bedeutend mehr Bedürftige. Aktuell hätten ca. 1,5 Millionen Menschen Anspruch auf Sozialleistungen, nehmen diese aber aus verschiedenen Gründen (z. B. Schamgefühlen) nicht wahr. Da das Grundeinkommen nicht mehr beantragt werden müsste, könnte auch dieses Problem gelöst werden. Und fast ganz Nebenbei sichert das Grundeinkommen eine ausreichende Rente im Alter.
Soziale Sicherheit besteht aber nicht nur aus einer pauschalen Antwort für alle. Selbstverständlich ersetzt das bedingungslose Grundeinkommen keine sozialstaatlichen Maßnahmen, die für Menschen mit besonderen Einschränkungen und Bedürfnissen unerlässlich sind. Ein Abbau von sozialstaatlichen Maßnahmen unter dem Deckmantel des Grundeinkommens ist hier ausdrücklich nicht gemeint. Denn das Grundeinkommen zielt sowohl auf Verteilungsgerechtigkeit als auch auf soziale Sicherheit.
Soziale Aspekte (individuell) / Effekte auf Demokratie und Gesellschaft
Im bisherigen System der Grundsicherung, werden Menschen für Arbeitslosigkeit bestraft. Ob sie für die Arbeitslosigkeit verantwortlich sind oder nicht, ist dabei unerheblich. Jeder Mensch, der Leistungen aus der Grundsicherung bezieht, muss seine Vermögensverhältnisse offenlegen, ist in der Wahl des Wohnortes eingeschränkt und muss jede Arbeit annehmen, ob diese existenzsichernd ist oder nicht. Weiterhin müssen Aus-, Fort- und Weiterbildungen durch die Arbeitsagentur genehmigt/finanziert werden, bei der Aufnahme eines Studiums fallen Betroffene sogar aus dem Bezug heraus. Dies setzt Arbeitssuchende nicht nur unter Druck, es schränkt auch ihre Grundrecht (Freizügigkeit und freie Wahl des Arbeitsplatzes sind eingeschränkt) ein und verbindet eine berufliche Weiterentwicklung mit erheblichem bürokratischem Aufwand. Weiterhin haben bisherige Feldstudien gezeigt, dass sich das Grundeinkommen positiv auf Bildungsgrad und Gesundheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgewirkt hat.
Abseits der existenzsichernden Arbeit ist zu erwarten, dass das BGE einen positiven Effekt auf ehrenamtliches Engagement haben. Bereits heute engagieren sich über 14 Millionen Menschen ehrenamtlich. Es ist zu erwarten, dass ein Grundeinkommen dieses Engagement stärkt und so ein Mehrwert für unsere Gesellschaft geschaffen wird.
Ein verstärktes ehrenamtliches Engagement breiter Bevölkerungsschichten stärkt schließlich auch die Demokratie in unserem Land. Demokratie lebt immer vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Das Grundeinkommen wird mehr Bürger in die Lage versetzen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Dieses Engagement muss nicht zwangsläufig in Parteimitgliedschaften münden, auch Bürgerinitiativen und Interessensverbände würden gestärkt werden.
Fazit: Das BGE befreit nicht nur das Individuum von Existenzängsten und staatlicher Kontrolle, auch die Gesellschaft profitiert, indem die Bürgerinnen und Bürger kreative Potentiale entfalten und sich ehrenamtlich stärker in die Gesellschaft einbringen können.
Bisherige Versuche zum Grundeinkommen
Das bedingungslose Grundeinkommen ist keinesfalls eine Erfindung des 21. Jahrhunderts, die erst im Zuge der zunehmenden Digitalisierung entstanden ist. Schon im 15. Jahrhundert beschäftigte sich der englische Humanist Thomas Morus mit der Idee der Einkommensgarantie. Erste Modellversuche gab es bereits in den 1970er Jahren in Kanada. 1974 beschloss die damalige linksliberale kanadische Regierung das Mincome-Experiment, welches die Auswirkungen der Einführung eines garantierten jährlichen Grundeinkommens untersuchen sollte. 1.000 Familien erhielten in den Städten Winnipeg und Dauphin ein jährlich garantiertes Einkommen von 1.200 kanadischen Dollar (nach heutigem Stand etwa 5.500 CAD), ohne sich einer Bedürftigkeitsprüfung unterziehen zu müssen. Eine wissenschaftliche Auswertung des Experiments erfolgte allerdings nicht, nachdem es 1977 zu einem abrupten Ende kam. Es zeigte sich jedoch, dass das Grundeinkommen positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatte, es Teenagern ermöglichte, sich für besser für besser bezahlte Berufe zu qualifizieren oder es Männern wie Frauen mehr Zeit für die Jobsuche verschaffte.
Ein ähnliches Experiment fand in den Jahren 2008 und 2009 in den namibischen Dorf Otjivero statt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten für die Dauer des Versuchs ein monatlich garantiertes Einkommen von 100 namibischen Dollar (6 Euro). Auch hier konnten nach Beendigung des Experiments Verbesserungen in der Gesundheit und Bildung der Teilnehmenden sowie ein Aufblühen des Kleinunternehmertums verzeichnet werden.
Aktuell ziehen die Modellprojekte in Finnland und den Niederlanden die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Auch in der kanadischen Provinz Ontario soll noch in diesem Jahr ein Versuch zum bedingungslosen Grundeinkommen gestartet werden. Aufgrund dessen, dass diese Versuche gerade erst begonnen haben bzw. noch beginnen werden, liegen hier noch keine Ergebnisse vor. Im Hinblick auf die Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen in Deutschland werden diese Ergebnisse jedoch von entscheidenderer Bedeutung sein.
Finanzierung
Erste Berechnungen und Modelle zur Finanzierung eines Grundeinkommens wurden bereits angestellt (z.B. durch Dieter Althaus und Götz Werner). Es müssen allerdings weitere Untersuchungen zur Finanzierbarkeit und dazu passenden Steuermodellen angestellt werden. Auch hierfür möchten wir uns einsetzen.
Mögliche Schritte zur Realisierung
Uns ist bewusst, dass der grundsätzliche Systemwechsel durch ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht von heute auf morgen zu realisieren ist. Als Schritte hin zu einem BGE möchten wir daher die Ausweitung des Kindergeldes hin zu einer existenzsichernden Kindergrundsicherung realisieren. Weiterhin stehen die Abschaffung der Sanktionen im SGB II und unser Garantierentenmodell Pate für die Idee einer grundsätzlichen unverbrüchlichen Existenzsicherung, die im zweiten Fall auch ohne Bedürftigkeitsprüfung erfolgen soll. Die allgemeine Idee eines BGE soll somit in den bestehenden umgrenzten Leistungssystemen prägend werden. Damit könnte sich der der Geist des BGE in den Ressortzuschnitten der einzelnen Fachministerien manifestieren.
Gleichzeitig ist auf Bundesebene durch die Einrichtung einer Enquete-Kommission die Überführung des bestehenden Systems in ein BGE-System systematisch aufzuarbeiten und mögliche Entwicklungspfade aufzuzeigen. Auf Ebene der Länder sind Debatten in den Fachministerkonferenzen anzuregen. Etwa im Rahmen der Kultusministerkonferenz, der Kinder- und Jungendministerkonferenz, der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, der Gesundheitsministerkonferenz und der Wirtschaftsministerkonferenz ist das Thema BGE unter den jeweiligen spezifischen fachpolitischen und rechtlichen Bedingungen zu diskutieren. So kann das BGE in seinen vielfachen Potentialen entwickelt und Schnittstellenprobleme zum heutigen Sozialsystem identifiziert werden.
Änderungsanträge
- A-2-Neu-Ä-1 (Robin Luge, Eingereicht)
Kommentare